Es war auf einer jener beliebten Führungen des Stadtteilvereins Handschuhsheim
an einem schönen Sonntagmorgen im August letzten Jahres. Schon früh zeichnete sich ab,
daß der Tag heiß werden wird. In der Nacht hatte es geregnet. Der Wald dampfte, es war
angenehm, durch das schattige und noch kühle Mühltal zum Heiligenberg zu wandern. Immer
wieder blieb man stehen, Eugen Holl als sachkundiger Führer gab interessante Einblicke in
Geschichte und Geschichten rund um unseren Hausberg.
Auf der Kuppe des Heiligenbergs, bei den vielen noch sichtbaren
Wohngruben der Kelten, die einst hier oben wohnten, spürte man den Hauch vergangener
Generationen. Warum lebten Sie in so großer Zahl auf dem Berg ? War es die
Eisengewinnung, waren es die Wirren von Völkerwanderungen, die das Leben unten in der
Ebene zu unsicher machten ? Aufzeichnungen aus dieser Zeit gibt es nicht. Zu lange
ist es her.
Über solche Fragen nachdenkend führte uns der Weg zum Bittersbrunnen,
einer alten Wasserstelle am äußeren nordwestlichen Rand des Heiligenberg-Areals noch
innerhalb des äußeren Ringwalles. Die Wasserschüttung des Bittersbrunnens ist
unregelmäßig. Er wird aus einer muldenförmigen wasserundurchlässigen Schicht im
Berghang gespeist, in der sich das Wasser sammelt. Wenn das Wasser über den Rand dieser
Mulde ansteigt, fließt es als Überlaufquelle in den Bittersbrunnen.
Der Brunnen, der neben dem Zollstockbrunnen den früheren Bewohnern des
Heiligenbergs als Wasserquelle diente, wurde 1979/1980 von der Schutzgemeinschaft
Heiligenberg neu und schön gefaßt. Der Quellgrund und das Brunnenbecken blieben dabei
mit einem natürlichen Untergrund belassen.
Die Herkunft des Namens "Bittersbrunnen" liegt im Dunkeln.
Der Name rührt sicherlich nicht daher, daß das Wasser "bitter" wäre. Es ist
sauberes und klares Quellwasser. Vielleicht kommt der Name von einer Persönlichkeit, die
"Bitter" hieß: des "Bitters Brunnen".
Inzwischen war es heiß geworden. Wir stiegen gern zum
Brunnen hinab, der mit seinem Brunnenstollen wie ein geheimnisvoller Eingang in den Berg
aussieht. Doch was ist das? Ein seltsam goldenes Leuchten aus dem Wasser des
Bittersbrunnens empfängt uns. Man erwartet eine Wasserstelle, Quellwasser, vielleicht
altes Laub. Aber das Wasser strahlt golden. Rätselhaftes Staunen. Gibt es Gold auf dem
Heiligenberg? Offenbart der Berg hier am Bittersbrunnen einen Einblick in sein Inneres?
Sind wir verzaubert oder spielt uns die Hitze des Tages einen Streich?
Wir gehen näher heran und betrachten es von allen Seiten. Ein goldenes
Schimmern strahlt uns aus dem Wasser entgegen. Wir wollen es fotografieren, weil wir so
etwas noch nie gesehen haben. Vielleicht stellt sich auf dem Foto heraus, daß es nur
Schein war. Aber auch die Fotos, die hier auf der Seite abgebildet sind, zeigen später
dasselbe, was wir mit bloßen Augen gesehen haben: Ein goldener Glanz auf fast dem
gesamten Wasserspiegel des Bittersbrunnens.
Wenn wir mit dem Finger das Wasser berühren, sehen wir, daß das
Wasser selbst klar ist, nur auf der Oberfläche des Wassers schwimmt goldener Staub.
Seltsam, wenn er am Finger hängen bleibt, ist der ganze goldene Schein dahin. Dann ist es
nur ein bräunliches Material. Was ist das? Manchmal sieht man im Spätsommer auf
Wasserpfützen, besonders wenn es nach einer trockenen Wärme stark geregnet hat, auch ein
gelbliches Pulver, Blütenstaub von windblütigen Bäumen wie Fichten oder Edelkastanien.
Blütenstaub aber ist gelblich und er leuchtet nicht. Hier im Bittersbrunnen ist die Farbe
golden und man hat das Gefühl, sie strahlt einem mit einem hellen, goldenen Schein an.
Wir wollen der Sache auf den Grund gehen. Wir nehmen ein wenig Wasser
in einem kleinen Gläschen mit, um es zu Hause unter dem Mikroskop genauer anzuschauen.
Und da kommen wir dann erst richtig ins Staunen: Winzig kleine, goldene Kugeln strudeln
durch den Wassertropfen. Es sind Lebewesen, halb Tier, halb Pflanze. Mit winzigen
Geißeln, kleinen Ärmchen gleich, strampeln sie durchs Wasser. Andere, von ähnlicher
Gestalt und ebenfalls golden leuchtend, sind kreisrund und sitzen als Kugeln nebeneinander
fest.
Wir haben ein seltenes und ganz besonderes Schauspiel der Natur
entdeckt: Im Bittersbrunnen hat eine Kolonie der seltenen Goldglanzalgen ihre Wohnung
genommen.
Die einzelnen Algen sind winzig klein, zwischen acht- und
zehntausendstel Millimeter Durchmesser. Wir rechnen: pro Quadratmillimeter sind das
5 000 bis 10 000 Individuen. Das bedeutet, daß im Wasser des Bittersbrunnens
rund 10 Milliarden Goldkugeln leben, mehr als es Menschen auf der Erde gibt !
Im Mikroskop pulsiert und schwimmt es durcheinander, man kann
stundenlang zuschauen und wird nicht müde dabei. Ab und zu sieht man auch andere
Gesellen, "größere" kleine Tierchen, die an einem Stiel festsitzen und mit
hunderten von kleinen Wimperhärchen auf ihrem glockenförmigen Körper das Wasser an
ihrem Mund vorbeistrudeln: zierliche Glockentierchen. Wenn sie erschrecken, z.B. wenn man
unvorsichtig an das Mikroskop stößt, ziehen sie sich blitzschnell an ihrem Stiel
zusammen, der sich dabei wie eine Stahlfeder zusammenrollt. Bleibt der Wassertropfen eine
halbe bis eine Minute ruhig, entrollt sich der Stiel wieder und sie beginnen das Strudeln
von neuem. Erwischen sie dabei eine leckere Goldglanzalge, ist es um sie geschehen. Sie
wird vom Glockentierchen, das ebenfalls nur aus einer
einzigen Zelle besteht, verschluckt und verdaut. Da die Glockentierchen so klein sind,
sind sie im Mikroskop durchsichtig und man kann durch sie hindurchschauen und sehen, was
sie gefressen haben. Alle Glockentierchen in dem Wassertropfen haben sich, wie auf dem
Foto zu sehen ist, den Bauch mit Goldalgen gefüllt. Das ist aber nicht das Ende der
Kette. Ab und zu durchpflügt ein zappeliges Rädertierchen den Wassertropfen. Auch es
hält sich gütlich an den Goldalgen. Und so sind die Goldalgen im Bittersbrunnen die
Grundlage für ganze Lebensketten.
So erschließt uns der Blick durchs Mikroskop eine geheimnisvolle Welt,
in der in jedem Tropfen des Wassers des Bittersbrunnens vieltausendfaches Leben wallt und
ringt und kämpft, um jeden Tag aufs Neue Licht und Dasein zu erleben. Diese Wesen wissen
nichts von unserer Welt, und wir wissen nichts von ihrer.
Die Goldglanzalgen haben vor langer Zeit in der Evolution des
Lebens auf der Erde eine ganz besondere Erfindung gemacht. Als Pflanzen mit Chlorophyll
(Blattgrün) können sie wie andere grüne Pflanzen einfach von Sonnenenergie leben, mit
deren Hilfe sie Kohlendioxid und Wasser in Nahrung umwandeln. Aber anders als normale
grüne Pflanzen oder Algen können sie auch in Lebensräumen leben, in die nur wenig Licht
kommt. Sie können nämlich eine runde Linsenkugel bilden, in der sie sich auf die
Wasseroberfläche setzen und die Linse genau in Richtung des einfallenden Lichtes
ausrichten. Würden sie nur wie normale Algen im Wasser leben, wäre der Teil des Lichts,
der bei schrägem Lichteinfall an der Wasseroberfläche reflektiert wird und dadurch gar
nicht ins Wasser gelangt, für sie nicht nutzbar. Durch ihren Platz über der
Wasseroberfläche steht ihnen das gesamte im Bittersbrunnen noch vorhandene Licht zur
Verfügung. Und zusätzlich werden die wenigen im Bittersbrunnen ankommenden Lichtstrahlen
von der Linse gebündelt und direkt auf den Chloroplasten, das Solarkraftwerk der Zelle,
konzentriert, wo das Licht in Lebensenergie umgewandelt wird. Die Rückseite der Linse
wirkt wie ein goldener Spiegel und die Lichtstrahlen, die nicht verbraucht wurden, werden
an diesem Spiegel reflektiert und gehen ein zweites Mal durch den Chloroplasten hindurch.
Dadurch wird schwaches Sonnenlicht optimal für die Photosynthese
genutzt und die Goldglanzalgen können auch Lebensräume mit wenig Licht besiedeln. Und
wenn wir an einen solchen Lebensraum herantreten und das Licht im Rücken haben, schauen
wir mit den einfallenden Lichtstrahlen auf Milliarden kleiner goldener Linsenkugeln, die
das Licht reflektieren und uns als goldenen Schein in unsere Augen strahlen. Schaut man
von einem anderen Winkel auf die Wasseroberfläche, ist der goldene Schein kaum zu sehen,
wie das Bild unten zeigt. Das ist auch die Ursache dafür, daß dieselben Goldglanzalgen,
wenn wir mit dem Finger in das Wasser hineingefaßt haben, zwar am Finger hängen, aber
nicht mehr golden strahlen, sondern nur als bräunliche Algen sichtbar sind. Der
leuchtende Goldglanz zeigt sich nur dann, wenn Millionen von Linsenaugen wohlgeordnet in
einer Richtung, in der Richtung des Lichts, den staunenden Betrachter anschauen. Es ist,
als ob sie uns zurufen wollten: Störe unsere Ordnung nicht, dann zerstören wir Dir auch
nicht den goldenen Schein.
Uns führte der Weg in den darauffolgenden Monaten noch mehrmals
zum Bittersbrunnen, um zu schauen, wie es den Goldglanzalgen geht. Sie waren später noch
bis Anfang Oktober hinein sichtbar, wenn auch nicht mehr so strahlend wie im August.
Goldglanzalgen sind auch in anderer Hinsicht
zauberhafte Gesellen. Sie können sich leicht und relativ schnell in mehrere
unterschiedliche Gestalten verwandeln. Wenn das Wasser des Bittersbrunnens ungestört und
ruhig daliegt, schwimmen sie zur Wasseroberfläche und durchstoßen diese, was bei ihrer
Winzigkeit aufgrund der Oberflächenspannung des Wassers nicht einfach ist. Dann legen sie
sich ruhig auf die Wasseroberfläche, schauen zum Licht und fangen es ein. Wird die
Wasseroberfläche gestört oder gelangen z.B. Regentropfen in das Wasser, werden sie
durchgeschüttelt und wieder mit Wasser benetzt. Dann wächst ihnen ein beweglicher
Geißelfaden, mit dem sie im Wasser rudern und sich so fortbewegen können. Auf diese Art
können sie dann auch wieder zu den besten und hellsten Stellen des Wassers schwimmen, um
sich wieder auf die Wasseroberfläche zu setzen. Später, wenn es Herbst wird und die Zeit
des Winterschlafes kommt, sinken sie auf den Grund des Brunnens und suchen Stellen, wo sie
sich über die Winterruhe hinweg verstecken können. Am liebsten tun sie das in den leeren
Zellen abgestorbener Blätter. Dabei wandeln sie sich in eine dritte Form, eine
amöbenhaft kriechende Bewegungsform um, in der sie sich im Innern der abgestorbenen
Blätter bewegen können. Dort warten sie auf das nächste Frühjahr. Wenn das Wasser dann
wieder etwas wärmer und das Licht wieder heller wird, erwachen sie aus ihrer Winterruhe,
werden wieder beweglich und streben aufs Neue dem Licht zu.
Was können wir von den winzigen Goldkugeln lernen?
Auch bei Dingen, von denen wir denken, wir kennen sie, kann man ganz neue Aspekte
entdecken, wenn man genau hinschaut. Man braucht dazu nicht in ferne Länder zu reisen, um
Wunder zu entdecken, es genügt eine Wanderung auf den Handschuhsheimer
Heiligenberg. Und sie lehren uns noch ein Zweites: Auch unter sehr widrigen
Lebensumständen kann man noch gut leben, wenn man sich schlau darauf einstellt. Auch an
einem Ort, an den nur wenig Licht fällt, läßt sichs leben, wenn man geschickt die
schwachen Lichtstrahlen einsammelt und sie in Lebensenergie verwandelt. So ist im
Bittersbrunnen ein ganzer Lebensraum entstanden, in dem auch Glockentierchen und
Rädertierchen Nutznießer sind, ohne jedoch den Goldglanzalgen zu schaden.
Ob die Goldglanzalgen schon zu den Zeiten der Kelten im Bittersbrunnen
wohnten und den einen oder anderen unserer Vorfahren mit ihrem Goldschein verwirrten,
wissen wir nicht. Interessant jedoch ist, daß die Goldglanzalgen weltweit zum erstenmal
im Jahr 1880 von dem russischen Botaniker Woronin unter dem lateinischen Namen
"Chromophyton rosanoffii" in einer damals vielbeachteten Veröffentlichung
beschrieben wurden, die in Wiesbaden entstand. Gefunden hatte Woronin die Goldglanzalge
auf einer Reise in Finnland.
Hoffen wir, daß die seltsame und schöne Erscheinung der
Goldglanzalgen im Bittersbrunnen erhalten bleibt. Wer sie selbst im Mikroskop betrachten
will, kann ohne Problem ein klein wenig (!) des Goldstaubes in einem kleinen Gläschen mit
nach Hause nehmen. Das schadet ihnen nicht. Wichtig jedoch ist, daß der Brunnen nicht mit
Abfällen verunreinigt wird, da Goldglanzalgen sauberes Wasser lieben.
Nachtrag: Im August und September 1998 und in den
nachfolgenden Jahren waren die Goldglanzalgen
im Bittersbrunnen wieder in vollem Glanz zu sehen.